Die meisten Projekte und Programme zur Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen erreichen vornehmlich Familien aus der sozialen Mittel- und Oberschicht, die bereits ausreichend motiviert sind und entsprechende Kompetenzen besitzen. Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien, bei denen der Anteil Übergewichtiger mit über 20 Prozent besonders hoch ist, sind also von vielen Präventionsmaßnahmen von vorherein ausgeschlossen. Sie profitieren hiervon nicht, und das, obwohl ihr Bedarf besonders hoch wäre. Dieses sogenannte Präventionsdilemma vergrößert die Kluft zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen.
Die Plattform Ernährung und Bewegung e.V. (peb) hat anlässlich ihres Kongresses "Abgehängt im Präventionsdilemma? Wie kann die Übergewichtsprävention für Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status besser gelingen?" Ende Februar 2021 sechs Thesen vorgestellt und diskutiert. Ziel war es, mit gezielten Maßnahmen, der richtigen Ausstattung und einer wirksamen Ansprache ohne Diskriminierung und Schuldzuweisung besonders gefährdete gesellschaftliche Gruppen besser zu erreichen.
1. Die Selbstwirksamkeit von Eltern, Kindern und Jugendlichen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status muss gestärkt werden
Selbstwirksamkeit ist die Überzeugung und Fähigkeit, durch eigenes Handeln Probleme selbstständig meistern zu können. Angebote der Gesundheitsförderung – etwa zur Ernährungsbildung oder Bewegungsförderung – sollten das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärken. Wichtig ist dabei eine Kommunikation der Mitarbeitenden in Präventionsprojekten mit den Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern auf Augenhöhe.
Besondere Bedeutung kommt dem Vorbild der Eltern zu, weshalb hier Kompetenzen gestärkt werden müssen, Eltern sie an ihre Kinder weitergeben können. Dies gilt fürs Kochen mit frischen Zutaten genauso wie für Bewegung an der frischen Luft z.B. beim Fahrradfahren oder Fußballspielen.
2. Gesundheitsförderung und die damit verbundenen Interventionen müssen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen
Projekte und Programme müssen interdisziplinäre aufgestellt sein und wissenschaftlich evaluiert werden. Der nachgewiesene Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheitszustand muss genauer analysiert werden und in die gezielte Prävention einfließen.
3. Die primärärztlichen Strukturen müssen besser genutzt werden
Kinder- und Jugendärzten, Allgemeinmedizinern und Gynäkologen, also den sogenannten Primärärzten, kommen eine besondere Bedeutung zu, weil sie als erste Ansprechpartner der betroffenen Familien ein hohes Ansehen genießen. Kooperationen von Arztpraxen mit Angeboten der Jugendhilfe, wie sie in einigen Städten bereits erfolgreich durchgeführt werden, sollen zur Regelversorgung werden. Vorsorgeuntersuchungen (U-Untersuchungen) sollen ausgeweitet und verständlicher für Eltern, Kinder und Jugendliche werden.
4. Die Praxis der Gesundheitsförderung muss über Systemgrenzen hinweg integriert und in den Regelstrukturen verankert werden
Die peb spricht sich dafür aus, dass Synergien besser genutzt und Programme verstetigt werden. Zeitlich begrenzte Projekte greifen z.B. bei Adipositas nicht, weil es sich dabei um eine chronische Erkrankung handelt, bei der die Betroffenen langfristig begleitet werden müssen. Laut peb können Maßnahmen nur dann nachhaltig greifen, wenn sie in den Regelstrukturen des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystems und in den Kommunen verankert sind.
5. Kitas und Schulen müssen ihrer Verantwortung gerecht werden
Länder und Kommunen sind aufgerufen, die Ausstattung von Kitas und Schulen als Orte für alle sozialen Schichten gesundheitsfördernd zu gestalten (Vorbildfunktion in den Bereichen Ernährung, Bewegung, digitale Medien, Erholungs- und Ruhezeiten). Gesundheitsbildung und das Vermitteln von Alltagskompetenzen in Kitas und Schulen sollen gestärkt werden und Eltern mit einbeziehen.
6. Kommunen sind der beste Ort für eine bedarfsgerechte Gesundheitsförderung
An ihrem Wohnort sind Eltern, Kinder und Jugendliche für verhaltens- und verhältnispräventive Angebote am besten zu erreichen. Wichtig sind dauerhafte Kooperationen und ausreichende Ressourcen für die Zusammenarbeit im lokalen Raum. Bei der Entwicklung von Programmen sollten neben Fachleuten auch die angesprochenen Bevölkerungsgruppen und wichtige Multiplikatorinnen und Multiplikatoren frühzeitig eingebunden werden.