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Betriebliche Gesundheitsförderung Interviews

"Betriebliche Gesundheitsförderung stellt eine Win-Win-Situation für Beschäftigte, Unternehmen und die Gesellschaft dar", sagt Prof. Dr. Annegret Flothow, Professorin für Gesundheitspsychologie am Department Ökotrophologie der HAW Hamburg.

Portraitfoto Prof. Annegret Flothow
Bild: HAW Hamburg

Prof. Dr. Annegret Flothow ist Professorin für Gesundheitspsychologie am Department Ökotrophologie der HAW Hamburg. Neben der Gesundheitsförderung und Ernährungsbildung liegt ihr Schwerpunkt im Betrieblichen Gesundheitsmanagement. Im IN FORM Interview erläutert sie, warum Betriebliche Gesundheitsförderung eine Win-Win-Situation für alle ist und dass BGF als Querschnittaufgabe fest in den Strukturen und Prozessen der (Arbeits-)Organisation verankert werden soll.

IN-FORM: Von Betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF) ist oft die Rede, doch was versteht man genau darunter?

Prof. Dr. Annegret Flothow: Nach der Luxemburger Deklaration des Europäischen Netzwerks für betriebliche Gesundheitsförderung umfasst die betriebliche Gesundheitsförderung alle gemeinsamen Maßnahmen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gesellschaft zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz. Dies kann durch die Verbesserung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen, durch die Förderung einer aktiven Mitarbeiterbeteiligung und durch die Stärkung der gesundheitlichen Ressourcen und Kompetenzen von berufstätigen Menschen erreicht werden. Idealerweise wird die Betriebliche Gesundheitsförderung als Prozess gestaltet, in dem zunächst die gesundheitliche Situation im Betrieb analysiert wird und danach entsprechende Maßnahmen unter Nutzung evidenzbasierter Konzepte geplant, umgesetzt und evaluiert werden. Die für Arbeitgeber und Arbeitnehmer freiwilligen Angebote der Betrieblichen Gesundheitsförderung haben zahlreiche Schnittmengen mit dem gesetzlichen Arbeits- und Gesundheitsschutz, dem betrieblichen Eingliederungsmanagement, den medizinischen Leistungen zur Prävention gesundheitlich beeinträchtigte Beschäftigte. Diese einzelnen Bereiche sollten in einem Betrieblichen Gesundheitsmanagement sinnvoll miteinander verknüpft und koordiniert werden.

In welchen Bereichen werden die Verantwortlichen für Betriebliche Gesundheitsförderung aktiv?

Prof. Dr. Annegret Flothow: Handlungsfelder ergeben sich in der gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung im Betrieb, in der Etablierung eines gesundheitsförderlichen Arbeits- und Lebensstil der Beschäftigten und in der – insbesondere für Klein- und Mittelbetriebe – überbetrieblichen Vernetzung. Dabei bilden die Bereiche gesundheitsgerechte Führung, gesundheitsförderliche Verpflegung und Ernährung, Bewegungsförderung, Stressbewältigung, Ressourcenstärkung und Suchtprävention besondere Schwerpunkte.

Weshalb ist Betriebliche Gesundheitsförderung so wichtig?

Prof. Dr. Annegret Flothow: Betriebliche Gesundheitsförderung leistet einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der strategischen Herausforderungen für Betriebe. Betriebe, Behörden und Institutionen wollen erfolgreich arbeiten. Dazu bedarf es gesunder, leistungsfähiger und leistungsbereiter Mitarbeiter. Die Ursachen für krankheitsbedingte Fehlzeiten im Betrieb liegen vor allem an Muskel-Skelett-Erkrankungen (ca. 25 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage), gefolgt von Atemwegserkrankungen (ca. 15 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage) und in steigendem Maße an psychischen und Verhaltensstörungen (ca. 15 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage). Dem Arbeitsmarkt werden zukünftig aufgrund des demografischen Wandels immer älter werdende Belegschaften zur Verfügung stehen. Ab dem mittleren Erwachsenenalter steigt das Risiko einer chronischen Erkrankung und dem daraus folgenden hohen Fehlzeitenrisiko bzw. der eingeschränkten Erwerbsfähigkeit stark an. Für die Arbeitgeber werden deshalb Maßnahmen zum Erhalt und zur Stärkung von Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit über die gesamte Spanne des Erwerbslebens bedeutsamer.

Welche Vorteile bieten gesundheitsförderliche Maßnahmen Betrieben, Behörden und Institutionen konkret?

Prof. Dr. Annegret Flothow: Geringere Ausgaben für Fehlzeiten sind darüber hinaus eine wichtige Motivation für Arbeitgeber, sich mit Betrieblicher Gesundheitsförderung zu beschäftigen. Vor allem in US-amerikanischen Studien ist der sogenannte Return on Investment (ROI) untersucht worden. Demnach lohnen sich Investitionen in die Gesundheitsförderung auch finanziell für Firmen. Hohe Kosten entstehen für die Betriebe allerdings nicht nur aufgrund von Fehlzeiten, sondern auch durch sogenannten Präsentismus. Das heißt die Mitarbeiter sind zwar anwesend, aber nur bedingt leistungsfähig oder leistungsbereit. Wie die vorliegenden Evaluationsstudien zeigen, lassen sich mit der Betrieblichen Gesundheitsförderung nicht nur Erkrankungsrisiken der Beschäftigten senken und krankheitsbedingte Fehlzeiten reduzieren, sondern auch die Arbeitszufriedenheit, die Motivation und die Einsatzbereitschaft positiv beeinflussen. Darüber hinaus versprechen sich Arbeitgeber einen Imagegewinn für ihre Unternehmen, wenn sie Angebote zur Betrieblichen Gesundheitsförderung machen. Das ist insbesondere für Betriebe mit Fachkräftemangel von Bedeutung, etwa in der Pflege, in Kitas, in bestimmten Handwerksberufen bzw. im IT-Bereich.

Wie erreichen die Verantwortlichen für BGF Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am besten?

Prof. Dr. Annegret Flothow: Aus meiner Sicht heißen die Zauberwörter „Partizipation“ und Kommunikation“. Beschäftigte sollten von Beginn an in die Planung miteinbezogen werden. Aus meiner Erfahrung ist es bspw. im Bereich der Analyse sehr viel erfolgversprechender, wenn nicht nur schriftliche Mitarbeiterbefragungen, sondern interaktive Gesundheitsworkshops durchgeführt werden, um die Bedarfe und Wünsche der Beschäftigten zu ermitteln. Sowohl die Inhalte als auch die Vermittlungsform sollten zielgruppen- und bedarfsgerecht gestaltet werden. Dabei sollten der Spaß, der Genuss, das Erleben von (kollegialer) Gemeinschaft und das Wohlbefinden im Vordergrund stehen. Verbote und der erhobene Zeigefinger haben in der Betrieblichen Gesundheitsförderung keinen Platz! Außerdem sollten Maßnahmen auf organisationaler Ebene, wie z. B. ein gesundheitsförderliches Verpflegungsangebot, mit Maßnahmen auf der personalen Ebene, z. B. Ernährungsworkshops, verknüpft werden. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Geschäftsleitung und die Führungskräfte die Gesundheitsförderung unterstützen und im besten Fall ein gutes Vorbild sind.

Können Sie uns aus dem Bereich Ernährung einige Erfolg versprechende Beispiele und Instrumente nennen?

Prof. Dr. Annegret Flothow: Die Handlungsfelder im Bereich Ernährung sind unglaublich vielfältig. Sie zielen vor allem darauf ab, Fehl- und Mangelernährung zu vermeiden sowie Übergewicht vorzubeugen. Zum einen kann das Verpflegungsangebots, wie z. B. im Betriebsrestaurant, in der Cafeteria oder in den Snack- und Getränkeautomaten in Abstimmung mit den Beschäftigten gesundheitsförderlicher gestaltet werden. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, was angeboten wird, sondern auch wie. Es sollte sichergestellt werden, dass Pausenzeiten eingehalten werden und dass den Beschäftigten ein Pausenraum zur Verfügung gestellt wird, in dem sie sich entspannen können. Darüber hinaus können auch die Möglichkeiten des Nudging genutzt werden, um die Beschäftigten zum gesundheitsförderlicher Verhalten „anzustubsen“. Zum anderen sind weitere Angebote in den Bereichen Ernährungsbildung und -beratung denkbar. Auch hier gibt es vielfältige Möglichkeiten, wie Gesundheitstage, Ernährungsworkshops, individuelle Beratungsangebote, Kurse zum Gesichtsmanagement, Rezepte im Intranet oder die kostenfreie Nutzung von Apps. Hier sollte man auch spezielle Zielgruppen im Blick haben, wie Beschäftigte im Schichtdienst oder an mobilen Arbeitsplätzen.

Großunternehmen bieten ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Angebote wie Rückenschule, vegetarische Kantinenkost und Betriebssport. Welche Hilfen gibt es für kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die Maßnahmen der BGF einführen wollen?

Prof. Dr. Annegret Flothow: Während Angebote zur Betrieblichen Gesundheitsförderung in Großbetrieben seit vielen Jahren zum Standard gehören, sind BGF-Maßnahmen in kleinen und mittleren Betrieben nicht selbstverständlich . Dabei arbeiten mehr als 60 % aller Beschäftigten in kleinen und mittleren Unternehmen, sogenannten KMU. Das Gesetz zur Stärkung der Prävention und Gesundheitsförderung (Präventionsgesetz – PrävG) sieht in § 20b Abs. 3 SGB V die Einrichtung regionaler BGF-Koordinierungsstellen durch die Krankenkassen vor. Seit 2017 können sich insbesondere kleine und mittlere Betriebe von Experten und Expertinnen der Gesetzlichen Krankenkassen kassenartenübergreifend bei der Umsetzung von Betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF) beraten lassen. Ziel der Beratung ist es, Unternehmen durch die Vermittlung von Informationen Wege und Handlungsmöglichkeiten zur Gesundheitsförderung im Betrieb aufzuzeigen sowie über die Unterstützungsleistungen durch die Krankenkassen zu informieren. Darüber hinaus sind gemeinsame Angebote in regionalen oder branchenbezogenen Netzwerken, wie z. B. von Handwerkskammern oder Trägern von Kindertagesstätten zielführend.

Was würden Sie sich konkret für die Zukunft wünschen, damit BGF noch stärker in den Fokus rückt?

Prof. Dr. Annegret Flothow: Aus meiner Sicht stellt die Betriebliche Gesundheitsförderung eine Win-Win-Win-Situation für Beschäftigte, Unternehmen und die Gesellschaft dar: Ca. 40 Millionen Beschäftigte haben direkt am Arbeitsplatz Zugang zu gesundheitsförderlichen Angeboten und profitieren von einer gesundheitsförderlichen Gestaltung des Arbeitsplatzes. Betriebe profitieren durch die höhere Bindung von Fachkräften, den Imagegewinn und leistungsfähige und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Sozialversicherungen und somit unsere immer älter werdende Gesellschaft haben Vorteile durch die Senkung von direkten und indirekten Gesundheitskosten. Für die (nahe!) Zukunft wünsche ich mir gesundheitsgerecht gestaltete Arbeitsplätze und gesundheitsförderliche Angebote für alle Beschäftigten und eine betriebliche Kultur, die Gesundheitsförderung als Querschnittaufgabe fest in den Strukturen und Prozessen der Organisation verankert hat.